Auf den ersten Blick läuft eine Museumsführung für gehörlose Menschen bzw. in Deutscher Gebärdensprache nicht so sehr viel anders ab wie eine Museumsführung für hörende Menschen. Erst einmal scheint es „nur“ eine andere Sprache zu sein. Jedoch gibt es Unterschiede. Diese möchte ich mit diesem Artikel aufzeigen.
Inhaltsübersicht
Wir sind Augenmenschen
Gehörlose Menschen und auch schwerhörige Menschen sind Menschen, die ihre Augen zur Kommunikation benutzen müssen. Schwerhörige Menschen benutzen ihre Augen sehr häufig zum Lippen absehen als Unterstützung zum Hören. Schwerhörigen Menschen fällt es manchmal schwer, während des (für sie intensiven und sehr konzentrierten) Zuhörens die Emotionen allein in der gesprochenen Sprechstimme zu erkennen, weshalb der Blick auf die Mimik und Körpersprache ebenso wichtig ist.
Die Deutsche Gebärdensprache ist eine natürlich entstandene Sprache, die visuell ist. In der Gebärdensprache sind die Hände, die Körpersprache, die Mimik und das Mundbild wichtige Bestandteile der Sprache. Da sie eine visuelle Sprache ist, nennen sich gehörlose Menschen deshalb auch „Augenmenschen“. Dass sie Augenmenschen sind, bedeutet, dass sie bei einer Führung zusätzliche „stille“ Zeit benötigen, um das gerade besprochene Werk in der Ausstellung betrachten zu können, damit sie das Gehörte mit dem Werk verknüpfen können. Ein Werk kann zum Beispiel ein Bild sein, eine Installation, ein Video oder eine Skulptur.
Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verwoben
Die Gebärdensprache ist nicht nur eine andere Sprache, sondern sie hat auch eine eigene Kultur, die Gebärdensprachkultur. Diese ist untrennbar mit der Gebärdensprache verwoben. Die Gebärdensprachkultur enthält neben der Gebärdensprache auch die für gehörlose Menschen wichtige Werte, Normen, Bräuche, Symbole und Traditionen. Ein Brauch haben Sie vielleicht schon einmal gesehen: Gehörlose klatschen zum Applaus nicht mit den Händen, wie es Hörende tun, sondern heben die Hände über den Kopf und lassen sie zittern. Gehörlose Menschen drücken sich ebenfalls künstlerisch aus in ihrer Sprache, Kunst, Film, Theater und Literatur.
Dies alles ist für eine Führung – genauso wie die Kultur der hörenden Menschen – wichtig. Im Gespräch über das uns vorliegende Werk wird das Werk, die Kultur der Hörenden und zusammen mit dem eigenen Leben und der eigenen Kultur betrachtet. So wird eine Führung lebendig und gut.
Reicht auch eine Führung mit Gebärdensprachdolmetscher?
Wie ist es denn, wenn Führungen mit Gebärdensprachdolmetschern durchgeführt werden?
An sich ist es eine gute Sache, denn das ist allemal besser als gar keine Führungen in Gebärdensprache anzubieten!
Eine dolmetschte Führung läuft ungefähr so ab: Eine hörende Kunstvermittlerin bzw. ein hörender Kunstvermittler zieht ihre Führung durch, wie sie dies für ein hörendes Publikum vorbereitet hat. Diese Führung wird durch eine Gebärdensprachdolmetscherin in Deutscher Gebärdensprache übersetzt. Es entsteht mit den gehörlosen Menschen sozusagen eine Kommunikation in Form einer Dreiecks-Konstellation.
Dolmetschen braucht Zeit
Die Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt schon von Beginn an simultan (=gleichzeitig), aber sie kann erst mit der Übersetzung anfangen, wenn der erste Satz fertig ist.
Der Grund liegt in der unterschiedlichen Grammatik beider Sprachen. In der Deutschen Sprache, die ich auch als Lautsprache bezeichne, ist der Satzbau „Subjekt – Verb – Objekt“. Ich beschreibe das am Beispiel diesen Satzes: „Ich hole das Buch.“
In der Gebärdensprache steht das Verb jedoch meistens am Ende: „Subjekt – Objekt – Verb“, demzufolge wird gebärdet: Ich Buch holen.
Deshalb muss die Gebärdensprachdolmetscherin den ganzen Satz abwarten, um es zu dolmetschen. So entsteht ein zeitlicher Versatz bei der Dolmetschung.
Zusätzlich kommt hier ein Hinweis: Bei bis zu einer Stunde Dolmetschen kann eine GebärdensprachdolmetscherIn beauftragt werden.
Bei mehr als einer Stunde Dolmetschleistung müssen zur Wahrung der Qualität zwei GebärdensprachdolmetscherInnen bestellt werden. Diese wechseln sich dann während der Dolmetschung cirka alle 20 Minuten ab.
Ein häufig beobachtetes Missverständnis, welches den Dialog oft hindert
Fragt während einer gedolmetschten Führung die hörende KunstvermittlerIn in die Runde, ob die gehörlosen Teilnehmenden Fragen zum Werk haben, müsste sie eigentlich deutlich länger als für sie gewohnt warten. Denn erst muss die Dolmetscherin den vorherigen Satz beenden und dann die Frage dolmetschen. Doch sehr oft habe ich es in den von mir besuchten gedolmetschten Führungen erlebt, dass genau diese zusätzliche Zeit oder besser: der Blick auf den Dolmetscher oft nicht genommen wird.
Zusätzlich darf man auch nicht vergessen, dass manche Menschen einfach zusätzliche Zeit brauchen, um eine Frage zu überlegen, um sie dann stellen zu können.
So passiert es fast regelmäßig, dass es an dieser Stelle ein Missverständnis entsteht. So scheint es nach der „normalen“ kurzen Wartezeit, dass es keine Fragen gäbe, weil nichts zu kommen scheint. Die Dolmetscherin war aber zu dem Zeitpunkt noch nicht fertig mit dem Dolmetschen oder ist gerade erst fertig geworden. Den gehörlosen Teilnehmenden wird jedoch kaum die Zeit gelassen, eine Frage zu formulieren, da durch das Missverständnis „Es kommt nichts“ die führende Person in der Führung weitermacht und mit der gesamten Gruppe zum nächsten Bild geht. So müssen gehörlose Teilnehmende ihre Fragen doch wieder zurückstellen. Gehörlose Menschen sind höflich und wollen die Führung nicht unterbrechen.
Gehörlose müssen sich entscheiden, wohin sie schauen…
Der andere Punkt ist, dass während der dolmetschten Führung sehr häufig nicht die „stille“ Zeit genommen wird. Es wird also sehr oft durchgehend gesprochen und somit auch durchgehend dolmetscht. Die gebärdensprachnutzenden Menschen müssen sich entscheiden, ob sie zwischendurch einen ganz kurzen Blick zum Werk riskieren und dadurch vielleicht mal ein paar Wörter oder einen Satz verpassen. Das Werk an sich können sie in dieser kurzen Zeit nicht eingehend betrachten und können somit auch weniger Bezug zum Gesprochenen nehmen.
Der Unterschied zur normalen Führung
Hörende Menschen können gleichzeitig: zuhören und das Werk betrachten.
Das ist bei gehörlosen Menschen ganz anders, da sie Augenmenschen sind! Sie benötigen ihre Augen für die Kommunikation und ebenfalls die Augen zur Betrachtung des Werks. Somit benötigen sie die stille Zeit zum Betrachten des Werks. Denn während der Kommunikation in Gebärdensprache können sie das Werk nicht so eingehend betrachten.
Zusätzlich wird aus Unkenntnis über die Gehörlosenkultur keine Bezüge zu dieser hergestellt, so dass Führungen inhaltlich in der Kultur der hörenden Menschen verbleiben. Die Gehörlosenkultur mit hineinzunehmen, ist zudem auch nicht die Aufgabe der Gebärdensprachdolmetscher. Diese übersetzen nur das Gesprochene Deutsch in Gebärdensprache.
Direkte Kommunikation ist besser
Aus all diesen Gründen bevorzugen gehörlose Menschen eine direkte Kommunikation mit der Kunstvermittler/in in der Gebärdensprache. Die KunstvermittlerIn selbst beherrscht die Gebärdensprache, die Teilnehmenden ebenso. Es ist kein Gebärdensprachdolmetscher dazwischen. Ein solches Beispiel zeigt das Beitragsbild bei meiner Führung in Deutscher Gebärdensprache mit gehörlosen Teilnehmenden auf der documenta 14 am Anfang des Artikels.
Durch die Bezüge zur Kultur und Geschichte gehörloser Menschen wird es spannender für die Teilnehmenden, die Kunst der Hörenden zu erfahren und von ihnen zu lernen. Zusätzlich entstehen viel leichter „stille“ Zeiten, in denen das Werk gemeinsam betrachtet wird.
Meine Führungen nehmen auf beide Kulturen Bezug und werden zudem interaktiv gestaltet. Interaktiv bedeutet, dass es ein Dialog zwischen Kunstvermittlerin und den Teilnehmenden stattfindet. Im gemeinsamen Gespräch und mit einfachen Fragen wird über das Werk diskutiert. Vorkenntnisse zur Kunst müssen Teilnehmende nicht mitbringen. Reine Vorträge wird es in meinen Führungen nicht geben.
Warum biete ich in eine große Themenvielfalt an und konzentriere mich nicht auf eine einzige Kunstepoche?
Jetzt zum Schluss kommt noch ein mir sehr wichtiger Punkt, der häufig von hörenden Menschen übersehen wird.
Die Zielgruppe der gehörlosen Menschen ist recht klein. Insgesamt leben in Deutschland geschätzt etwa um die 84000 gehörlose Menschen. Von ihnen wiederum interessieren sich – ähnlich wie auch bei den hörenden Menschen – eine kleine Gruppe für die Kunst. Deutschlandweit gesehen sind es ca. 0,1 bis maximal 0,2 , also ca. 840 bis 1680 gehörlose Menschen. Wenn ich diese Berechnungen dann auf die Region Nordhessen beziehen möchte, ist die regional erreichbare Gruppe demzufolge auch nicht besonders groß. Zu meinen Documenta-Führungen, die ich 2014 anbieten durfte, kamen etwa 20 – 25 gehörlose Menschen plus eine kleine Anzahl hörender Menschen. Ich schätze, dass von den ca. 200-300 gehörlose Menschen in Nordhessen sich ca. 0,1 für die Kunst interessiert und das sind dann möglicherweise um die 40 gehörlose Menschen.
Hinzukommt noch: Die Anzahl der KunstvermittlerInnen oder Museumsführende mit Deutscher Gebärdensprache in der Region ist noch kleiner – im Moment kenne ich nur einen weiteren gehörlosen Menschen, der im Technik-Museum Führungen macht und Stadtführungen anbietet. Daher ist meine Themenbandbreite groß! Ich interessiere mich schon von Kind an für sehr viele Themen, die sich von Geschichte über Archäologie, Kultur, Kunst, Natur, Architektur und den Menschen erstrecken kann (und ganz bestimmt habe ich einiges in der Aufzählung vergessen 😀 ) Deshalb ist es für mich möglich, in verschiedensten Museen und Ausstellungen qualitativ gute Führungen für Gehörlose anzubieten. Wenn ich von dieser Arbeit meinen Lebensunterhalt bestreiten möchte, ist es mir durch die kleine Zielgruppe nicht möglich, mich nur auf ein kleines Thema in der Kunst zu beschränken, wie es sonst normalerweise bei hörenden KunstvermittlerInnen ist. Aus diesem Grund gehe ich wie fast alle gebärdensprachigen KunstvermittlerInnen zusätzlich einer anderen Tätigkeit nach.
Fazit: Museumsführungen für Gehörlose sind doch anders als Museumsführungen für Hörende!
Hörende Menschen können gleichzeitig: zuhören und das Werk betrachten.
Gehörlose Menschen benötigen ihre Augen für die Kommunikation und ebenfalls die Augen zur Betrachtung des Werks. Sie benötigen deshalb zusätzliche Zeit zur Betrachtung des Werks. Zudem bevorzugen sie eine direkte Kommunikation mit einer gebärdensprachigen Kunstvermittlerin. Auf diese Weise ist ein Gespräch direkt mit allen Teilnehmenden möglich und die Reise durch die Ausstellung wird deutlich spannender.
Mehr über die Kultur und Bräuche der Deutschen Gebärdensprache erfährst Du auf der Webseite von „Taubwissen“. Die Übersetzung in deutscher Schrift ist unter dem Text nach dem Klick auf „Übersetzung“ sichtbar.
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Karin Müller Schmied
Museumsführungen und
Pädagogische Assistenz
in Deutscher Gebärdensprache
Für mich steht die kommunikative Barrierefreiheit an erster Stelle. Als Kindergartenassistentin begleite ich Dein gehörloses Kind im Kindergarten in Deutscher Gebärdensprache. In Museen führe ich Dich und Deine Familie durch die Ausstellungen in Deutscher Gebärdensprache und mache selbst Kunst.
In der Freizeit male und gärtnere ich gerne.
Liebe Karin, ein so wichtiger Beitrag ! Ich freue mich mehr von Dir zu lesen 🙂
Vielen Dank für diesen tollen und hilfreichen Artikel!
Da ich selbst im Bereich Sprachen tätig bin und mich für die DGS interessiere, sind es gerade die Unterschiede zu anderen Fremdsprachen, die mir hier einige Aha-Effekte bereitet haben. Es ist eigentlich so klar, und doch neigt man als hörende Person natürlich dazu, den „Augenmensch“-Aspekt zu unterschätzen, zum Beispiel im Bezug auf Zeit.